Stay Critical Towards German Remembering Culture – Eine intersektional orientierte Kontaktzone zur ‚Erinnerungskultur‘, Barbara Stellbrink-Kesy im Januar 2025

Empfindsam bleiben
Die Texte in diesem Blog untersuchen Erinnern als Ergebnis von Machtverhältnissen.
Wer sich – wie ich in meiner künstlerischen Recherche – aktiv ins ‚Flaggschiff Erinnerungskultur‘ einbringt, stößt darin schnell auf zahlreiche blinde Flecken und Ausschlusstechniken.
Bald wird einem klar: Erinnerungspolitik ist nicht herrschaftsfrei sondern gekennzeichnet durch Machthierarchien und den Kampf um Deutungshoheiten.
Wer wird gehört, wer nicht?
Wer vermittelt wem was? Wer darf wie sprechen? Was wird ausgeleuchtet und welche Schattenzonen entstehen
dadurch?
Psychisch Kranke, Menschen mit Assistenzbedarf, angeblich ‚Asoziale‘ und ‚Berufsverbrecher‘, Sinti und Roma –
Sowjetische Kriegsgefangene, nach dem Polen-Strafrecht Verurteilte Zwangsarbeiter, bei all diesen NS-
Verfolgten haben wir es als Nachkommen und Aktivist*innen mit öffentlicher Unsichtbarkeit und ihren Folgen
zu tun. Menschen, die wie ich solche Familiengeschichten aufarbeiten, nehmen die Diskrepanz zwischen der
Realität und dem Bild von ‚Deutschland als Musterland der Aufarbeitung‘ überdeutlich wahr. Sie wünschen sich
Dialoge über die schwierige Vergangenheit. Oft jedoch kommen diese aber nicht zustande oder scheitern.
Eugenische Phantasmen
Kollektive Gewalt prägt nicht nur den einzelnen Menschen, sondern Gesellschaften für lange Zeit.
Unsichtbarkeit und Stigma wirken transgenerational bis in die Gegenwart. In Deutschland, so schreibt D. Herzog
in ihrem Buch „Eugenische Phantasmen“(2024), habe es sich als außerordentlich zäher Prozess erwiesen, die
Eugenik zu verlernen. Sie bezieht sich darin auf behinderte Menschen, die mit langer Vorgeschichte als
„minderwertig“ ausgegrenzt wurden und zeichnet die Geschichte und die teils erfolgreiche Zurückdrängung
dieses Paradigmas nach. Doch betraf dies nicht nur Menschen mit Behinderungen im heutigen Sinn.
Zu den angeblich „Minderwertigen“ gehörten zahlreiche weitere Gruppen, wie psychisch Kranke,
Verhaltensauffällige, Arbeitsverweigerer, Wohnungslose, Queere. Alle, die zwar als deutsch galten, aber wie Juden
und Sinti zu „Anderen“ gemacht wurden. Der völkischen Vorstellung von einem homogenen „Volkskörper“
nach, musste dieser von ihnen „gereinigt“ werden. Heute wird sichtbar, wie diese Vorstellungen überdauert
haben.
Intersektional Denken
Um den völkischen und nationalistischen Ausrichtungen zu begegnen, mit denen wir es zu tun haben, sollten wir
die Alternativen aufzeigen, indem wir multidirektional denken und intersektional handeln.
Die heraufbeschworene Migrationsdebatte z.B. betreibt das bekannte, ausgrenzende „Othering“.
Die Erziehungswissenschaftlerin Astrid Messerschmidt schreibt hierzu: „Das Fremdmachen ganzer Teile der
Gesellschaft widerspricht dem Anspruch einer Erinnerungspraxis, die sich auf die Rekonstruktion und Reflexion
einer Politik von Identitätsmarkierungen, Ausgrenzungen, Deportationen und Verfolgungen bezieht“(Ufuq.de).
Erinnerungspolitisch korrespondiert mit diesem völkischen Denkmustern die Art und Weise, wie die etablierten,
institutionalisierten Praktiken des Gedenkens ganze Verfolgtengruppen ausgeklammert haben. Diese Menschen
waren es offenbar bis heute nicht wert, erinnert zu werden.
Erinnerungspolitik wird funktionalisiert
Erinnerungspolitik kann zu einem Instrument der Manipulation, der Repression und des erzwungenen
Schweigens werden, während sie nach Außen auf makellose Selbstdarstellung ausgerichtet ist.
Menschen, die sich wie ich in einer von Schweigen geprägten Zeit der 70er und 80er Jahre, um die Aufarbeitung
der NS-Verbrechen bemüht haben, erfüllt diese Entwicklung mit Bitterkeit. Vom historischen Gegenstand des
„Nie wieder“ ausgehend, schwindet der kritische Gehalt des „Erinnerns gegen das Vergessen“ zusehends dahin.
Denn der Vergangenheitsbezug wird für gesellschaftliche Selbstvergewisserung und Entschuldung benutzt.
Nachkommen der lange ‚verleugneten Opfer‘, deren Leid bis heute nicht anerkannt wurde, können und wollen
aber nicht einfach aus dem vorherrschenden „Erinnerungstheater“ aussteigen. Sie haben die Anerkennung der
Ermordeten als Verfolgte des NS noch nicht erreicht. Aber sie lassen sich nicht mit wohlfeilen
erinnerungspolitischen Repräsentationen abspeisen. Tiefgreifende Aufarbeitung betrachten sie als alternativlos.
Auf welche Verbündeten sie dabei heute zählen können, wird sich in der Praxis erweisen.
Einspruch erheben und die ‚Schönheit der Differenz‘* sichtbar machen
Kritische Stimmen hierzu sollten hörbar, Brüche und Einsprüche sichtbar werden. Es fehlt an Perspektiven
Betroffener, an erfahrungsbasiertem Wissen, an künstlerischen und aktiven Zugängen. Es fehlt auch an
Forschung. Diese wird durch erinnerungspolitische Repräsentationen ersetzt.
Trotz der moralischen Krise einer Praxis des Erinnerns, wie sie mit dem Aufstieg rechter Kräfte in der
Gesellschaft einhergeht, stehen Nachkommen der „Verleugneten“ zu ihrer Verantwortung. Sie fühlen sich
veranlasst, für deren ausgebliebene Anerkennung zu streiten und mit dazu beitragen, die Sehstörungen der
Gegenwart aufzuheben.
Vorherrschenden Deutungshoheiten mit ihren Auslassungen, Verleugnungen, Instrumentalisierungen,
Verharmlosungen und Gleichsetzungen nachzuspüren, ihnen etwas entgegenzusetzen, ist die Absicht dieser
Texte. So soll Raum entstehen für unterrepräsentierte Sichtweisen und eine Kontaktzone für Austausch.
Eine Öffentlichkeit ist nach M. Rothberg ein sozialer Raum, der durch die reflexive Zirkulation von Diskursen
geschaffen wird. Statt dem Vergessen anheim zu fallen, sollen die weitgehend unterdrückten Standpunkte und
Perspektiven zirkulieren können und die Eigenschaften Aktivität und Dauer entwickeln, die ihnen bisher nicht
zugestanden wurden.
Menschen, die sich mit eigenen Beiträgen hier beteiligen möchten, wenden sich gern an die Betreiberin dieser
Webseite.
*Titel des Buches von Hadija Haruna-Oelker
