Stolperstein für eine Unerhörte, „frei aber verpönt!“

Diese Seite ist meiner Großtante Irmgard Heiss/Stellbrink (1897- 1944) gewidmet, die 70 Jahre lang totgeschwiegen wurde.

Sie war eine Frau ‚zwischen den Zeiten‘, die ihren eigenen Kopf hatte. 1998 fand ich ihre letzten Briefe an die Familie und begann zu recherchieren. 2011 wurde ihre Krankenakte in einem Archiv entdeckt und seit Mai 2011 liegt vor ihrem Elternhaus in Detmold ein Stolperstein.
Einer der berüchtigten Meldebögen der Organisation mit der Berliner Adresse Tiergartenstraße 4 (T-4) für Irmgard Heiss war im August 1942 mit einem roten Kreuz gezeichnet worden. Dennoch überlebte sie, starb jedoch infolge von Hunger und Vernachlässigung im Jahr 1944 in der zweiten Phase der NS-„Euthanasie“ im Alter von 47 Jahren.

Die Schwester meiner Großmutter schreibt im Jahr 1939 über sich selbst: „Ich weiß gar nicht, ob ich schon richtig gelebt habe. Bewusst jedenfalls nicht, darauf warte ich noch. Nur krank stellenweise und gehemmt. Und frei, aber verpönt.“

Das weibliche Scheitern hatte System.
‚Zu den Opfern der Tötungsanstalt Pirna Sonnenstein gehören auffallend viele Frauen mittleren Alters, die sich oftmals bis zu einem Jahrzehnt in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung befunden hatten. Einige dieser Frauen hatten in den zwanziger Jahren das tradierte weibliche Rollenverhalten verlassen und ihr Leben eigenständig zu gestalten versucht.“ Dieser Satz kann auch dem Leben von Irmgard Heiss vorangeschrieben werden.
(Aus „Lebenszeugnisse – Leidenswege, biografische Porträts von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie-Anstalt“ Pirna Sonnenstein zu Johanna Stähle, 1902 – 1940).

Ihr Lebensweg erwies sich nach der Recherche als eng verbunden mit dem ihres Bruders, des evangelischen Pfarrers Karl-Friedrich Stellbrink, in Lübeck. Er verbreitete gemeinsam mit drei katholischen Kaplänen die Proteste des Bischofs von Galen  gegen die NS-„Euthanasie“. Die vier Geistlichen wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet.

 

Irmgard Stellbrink, ca. 1917
Irmgard Stellbrink, ca. 1917