Anmerkungen zu einer Geburtstagsparty

Eine Fotografie von ‚Helene H.‘ (noch ganz ohne Bezeichnung) fand ich erstmals in der Gedenkstätte Bernburg. Wahrscheinlich hatten Nachkommen sie dort aufgestellt. Später, als ich bereits das Porträt nach der Fotografie gemalt hatte, fand ich ihr Bild dann in der Gedenkstätte Hadamar wieder. Warum ihr voller Name nicht ausgeschrieben wurde, wird dort nicht gesagt, möglicherweise war es der Wunsch der Nachkommen, nicht den vollen Namen zu nennen? Ich würde gern mehr über Helene H. und ihre Geschichte erfahren.
Barbara Stellbrink-Kesy, Porträt ‚Helene H.‘ 1897 – 1944

Medizinische Wissenschaft im Nationalsozialismus und Erinnerungskultur

Unter diesem Titel wurde im Juni 2023 in Berlin das 40-jährige Bestehen des AK gefeiert.
Ausgerichtet wurde die Tagung vom Förderkreis Gedenkort T4 e.V. und dem GeDenkOrt.Charité – Wissenschaft in Verantwortung – in enger Zusammenarbeit mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, dem Paritätischen Wohlfahrtsverband Landesverband Berlin e.V. und der Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V..
Politische Prominenz war geladen, Festreden wurden gehalten. Den zentralen Festvortrag hielt Michael Wunder. Fest- und Tagungsbeiträge waren wie immer von hohem Niveau. Auffallend war allerdings auf der Tagung auch die De-Thematisierung bestimmter Fragen.

Sind Nachkommen von Opfern auch Teil des Arbeitskreises zur Erforschung der
NS-“Euthanasie“?

Von Beginn an nahmen Nachkommen von Opfern an den Tagungen des Arbeitskreises teil. Sie waren aktiv in der Aufarbeitung und wirken auch heute erinnerungspolitisch in die Gesellschaft hinein. Ich verstehe mich ebenfalls als ein Teil des AK in der Position einer transgenerational Betroffenen. Doch fühle ich mich darin zunehmend fremd. Gespräche ergaben, dass es auch anderen Mitgliedern dieser verstreuten und weitgehend unsichtbaren Familie, bestehend aus Mitgliedern der Folgegenerationen und ihnen verbundenen Menschen, so ergeht. Nicht Wenige haben sich zurückgezogen. In letzter Zeit veränderte sich die Außendarstellung des AK. Noch vor wenigen Monaten konnte man lesen (auf Gedenkort-T4.eu, Zugriff 1.4. 23) :
1983 luden engagierte Mediziner und Historiker erstmals zu einem Erfahrungsaustausch über Ihre Forschungen zur Psychiatrie in der NS-Zeit nach Gütersloh ein. Aus dieser Tagung entwickelte sich der Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen und Zwangssterilisation. In lockerer, offener Verbindung ist ein Arbeitskreis entstanden, der die Forschungen zu diesem Thema weitgehend geprägt hat. Historiker, Ärzte, Juristen, Theologen, Pädagogen, Forscher und persönlich Betroffene haben in über 50 Tagungen im In – und Ausland Arbeiten angestoßen, Forschungen vorangebracht und diskutiert. Professoren und Studenten, hauptberufliche Tätige und Interessierte arbeiten seit fast 30 Jahren ohne Vorstand oder Geschäftsordnung eng zusammen. Neben den historischen Fragen stehen die ethischen Konsequenzen der modernen Medizin und Biologie regelmäßig auf der Tagesordnung.
Mit „persönlich Betroffenen“ sind vermutlich Zwangssterilisierte oder Nachkommen von Ermordeten wie ich gemeint. Psychiater oder Historiker, die heute im Auftrag kirchlicher oder karitativer Einrichtungen forschen, welche in die NS – „Euthanasie“ verstrickt waren, können jedoch ebenfalls als Betroffene in der Täterporsition verstanden werden. Dieser Aspekt wurde bisher kaum beachtet. In der Einladung zur Jubiläumstagung des AK des Jahres 2023 wurden nun alle möglichen Berufsgruppen aufgezählt, „Betroffene“  Nachkommen von Ermordeten kommen nun darin nicht mehr vor.

Dynamiken des Ein- und Ausschlusses

Dies ist offenbar intendiert. Ist die Frage der Weitergabe belastender Erfahrungen über Generationen hinweg seit Jahren ein viel diskutierter Topos in den Sozial- und Geisteswissenschaften, so ist sie im AK entsprechend unadressiert geblieben. Kein wissenschaftlicher Vortrag hat sich auf einer der Tagungen je mit diesem Thema befasst. Die Festreden des Juni 2023 hatten nun die deutliche Tendenz, ausschließlich die Verdienste von Experten wie Historiker*innen oder Psychiater*innen und Gedenkstätten-Mitarbeitern zu würdigen. Dominierende Sichtweise war die, nach der die erfolgreiche ‚Erinnerungskultur‘ als Ergebnis der Aufarbeitung wohlmeinender und engagierter Experten betrachtet werden kann, die mit sozialenKämpfen um Anerkennung und Entschädigung nichts zu tun haben. Nach der Auffassung der Staatsministerin Claudia Roth wurde der AK offenbar von der überragenden Einzelpersönlichkeit Klaus Dörner ‚erfunden‘. Mir kamen beim Zuhören sofort die ‚Fragen eines lesenden Arbeiters‘ von Berthold Brecht in den Sinn. Dass der Kreis damals eine Gruppe von Betroffenen um die zwangssterilisierte Aktivistin Klara Nowack in ihrem Kampf um Anerkennung unterstützte, blieb unerwähnt. Überhaupt geriet die Hommage an den bedeutenden Sozialpsychiater für meinen Geschmack ins Fahrwasser des Personenkultes. Um Inhalte ging es dabei kaum. Ich fürchte, dem selbstreflektierten Klaus Dörner hätte das nicht besonders gefallen, so wie ich ihn bei seinen letzten Beiträgen im AK erlebt habe.
Die Menschen, die unter den verschärften Bedingungen der Nachkriegszeit in der Aufarbeitung vorangegangen und marginalisiert worden sind sowie diejenigen, die ebenfalls an der Basis forschen, publizieren und kreative Vermittlungsformen beisteuern, sie fanden keinerlei Erwähnung. So ist gerade eine wichtige Essaysammlung in Herausgeberschaft des BEZ ¹erschienen, deren Beiträge auf Interviews mit Überlebenden und Zwangssterilisierten basieren.*
Nicht einmal Dorothea Buck, die als kreative Aktivistin einst viel erreicht hat, wurde benannt. Der Zusammenschluss der Überlebenden, ihre Anstrengungen, kamen in den Festreden schlicht nicht vor. Der Vertreter der Stiftung Denkmal erwähnte als Angehörige lediglich eine einzelne Person namentlich, die zweifellos verdienstvoll ist. Allerdings ist es seit Jahren dieselbe Person, die durch eine erinnerungspolitische Zäsur der Fachgesellschaft der Deutschen Psychiater im Jahr 2010 quasi „geadelt“ wurde. Vielleicht war es ihm nicht bewusst, aber er spielte damit wieder einmal die ‚Angehörigen‘ gegeneinander aus. Michael Wunders Rede enthielt immerhin einen Satz zur Arbeit des BEZ, in dem er dessen langjährige Geschäftsführerin und ihr Wirken im AK würdigte. Auch formulierte er vorsichtige Kritik an der an Nachkommen gerichtete Bitte um Entschuldigung der deutschen psychiatrischen Fachgesellschaft vor über einem Jahrzehnt, mit der es sich diese zu leicht gemacht habe. Ein Kernsatz der Festrede lautete, dass es auch in Zukunft darum gehen muss, der Gesellschaft den Stachel der Irritation vorzuhalten und der AK dadurch noch wichtiger werden wird. Dieser Stachel bestünde vor allem im Begrüßen des „Anderssein“ und im Miteinander der Verschiedenen. Der
Analyse kann ich mich voll und ganz anschließen, erst recht in einer Zeit, in der dieses Miteinander erneut dramatisch aufgekündigt wird. Nur, wo war auf der Jubiläumstagung dieser Stachel?

Miteinander der Verschiedenen?

Geschichtspolitik ist eben nicht frei von widerstreitenden Interessen, von Dominanzverhältnissen und Herrschaftsformen. ‚Erinnerung‘ muss darum immer wieder neu erstritten werden. Betroffene und Nachkommen sind nach wie vor von Machthierarchien umgeben und bekommen wenig Aufmerksamkeit. Selbstgerechtes und unbescheidenes Auftreten ging in manchen der Festreden einher mit dem Ausschluss der unbeliebten Stimmen. Es scheint im AK ein Tabu zu sein darüber zu sprechen. Das Problem des Umgangs mit Scham und Schuld betrifft nicht zuletzt große Institutionen wie Diakonie, Caritas, und andere Wohlfahrtseinrichtungen, die mit ihrer Institutionengeschichte in der Nachfolge des Nationalsozialismus stehen, sich dazu verhalten müssen und die wesentlich an der Gestaltung des Festaktes beteiligt waren.

Welche Geschichten werden gehört?

Ich lasse mich bei meinen Überlegungen von der Feststellung des Historikers Arnd Bauerkämper (2012, 50) leiten. Er spricht dabei von Aushandlungsprozessen in asymmetrischen Machtverhältnissen. Demnach kann das Erinnern als soziale Praxis aufgefasst werden und es
bestimmten nach 1945 die jeweils dominierenden Deutungsinteressen die Erinnerung an die unmittelbare Vergangenheit. Hans Ludwig Siemen holt in seinem Aufsatz „Antigone in der Irrenanstalt“ (2022) diese Erkenntnisse ins Feld der NS – „Euthanasie“, wenn er feststellt, dass die deutsche Psychiatrie den Opfern in der Nachkriegsgesellschaft keinen Raum zugestehen konnte und wollte, sondern sich für
Verdrängung und Verleugnung entschieden hatte und statt dessen am rassistisch orientierten eugenischen Denken festhielt. Er beschreibt, wie sich schließlich als Erfolg der damaligen deutschen Psychiatrie die Negierung der Opfer in der Nichtanerkennung der Verfolgten niederschlug.
Aus der radikalen Erinnerungskultur der Nachkriegsjahre ließe sich folgern, dass jede Erinnerungskultur in drei Richtungen weise: In die Vergangenheit hinein mit den Fragen, welche Geschichten erzählt werden sollen, über wen und wie? In die Gegenwart hinein mit den Fragen:
„Wie ist es um die dynamische Beziehung zwischen den Nachfahren der ehemaligen Tätergruppen und denen der ehemaligen Opfergruppen bestellt? Wie geht eine Gesellschaft, wie geht ein Sozialsystem mit psychisch kranken Menschen um?“ (ebd. S. 50). Und schließlich verweise Erinnerungskultur auf die Zukunft: Muss durch das Erinnern etwas verändert werden? Die erstgenannte Frage wird im AK bisher vollständig ausgeklammert. Im Porträt der Festvorträge stilisierten Politiker*innen den losen Zusammenschluss von Personen im AK zu einem von ‚Rettern‘ und „Wiedergutmachern“ von in die NS-„Euthanasie“ verstrickten Institutionen. Was nicht ins Bild passte, wurde verdrängt und abgewehrt. Hier haben die ‚Dominanten‘ die ‚Anderen‘ auf eine passive Opferrolle zu reduzieren versucht. Die direkt und transgenerational Betroffenen haben dagegen als Resonanzfläche für die Dominanten und deren Erlösungsfantasien zu dienen. Damit ragt die Geschichte der Aufarbeitung als eine von Dominanzverhältnissen geprägte in die Arbeit des AK hinein und wird darin fortgeschrieben.

‚Stacheliges‘ Erinnern der Nachkommen

Mit diesem Beitrag möchte ich den Diskursraum um eine Perspektive der Nachkommen bereichern, als Beitrag. Denn wir Betroffene in der Nachfolge der Opfer sollten nicht aufgeben: Solche Widersprüche aufzuzeigen, wird nur gelingen, wenn wir uns selbstbewusst und deutlich artikulieren. „Erinnern“, das nicht weh tut, keinen ‚Stachel zeigt‘, gerinnt zum staatsnahen Ritual, das ein lebendiges ‚Miteinander der Verschiedenen‘ in der Aufarbeitung ersticken kann. Dann dient das Licht, das der AK ins Dunkel der Zusammenhänge rund um die NS – „Euthanasie“ gebracht hat (aus der Rede des Antisemitismusbeauftragten Felix Klein), leicht dazu, von Schattenzonen der ‚Erinnerungskultur‘ abzulenken.

1. AG Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten

Arnd Bauerkämper (2012): Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerungen an Nationalsozialismus
Faschismus und Krieg in Europa seit 1945. Paderborn, S. 50.

Hans-Ludwig Siemen (2022): „Antigone in der Irrenanstalt.“ – Anmerkungen zur Erinnerungskultur
der NS-Psychiatrieverbrechen. Psyche Z Psychoanal 76 (1) 35-60. DOI 1021706/ps-76-1-3

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