Rezension:
Barbara Degen, Marion Keßler, Claus Melter (Hrsg.): Ermordet in Bethel? Neue Forschungen zu Säuglingssterblichkeit und Hirnforschung in der NS-Zeit. 2024, Verlag Beltz Juventa, 38.-€
‚Eitel Sonnenschein‘?
Diese Redewendung drückt in der Regel aus, dass es keinerlei Probleme gegeben hat. Dies kann und will die bedeutende Institution, größter Arbeitgeber Bielefelds, in Bezug auf ihre Rolle und Praxis im Nationalsozialismus nicht behaupten. Doch wird auf der Webseite als auch in ihren Veröffentlichungen beteuert sie, die Dunkelzonen, die durch eine Verstrickung mit der NS-„Euthanasie“ bestanden, erhellt zu haben. Eine Verstrickung entstand z.B. durch den frühen Einfluss rassenhygienischer Ideologie auf die Innere Mission, die spätere Diakonie, sowie durch leitende Ärzte von Bethel mit rassenhygienischen Einstellungen. Sie entstand durch Absprachen mit der damaligen Arbeitsgemeinschaft, die für die Durchführung der Massenmorde an Anstaltspatienten mit Sitz in der Tiergartenstraße 4 in Berlin, kurz T4, zuständig war.
Einige leitende Ärzte Bethels waren nach ihrer Beschäftigung dort T4 Gutachter.
Verstrickung entstand durch die Auslieferung jüdischer Patienten und durch Verlegungen von gefährdeten ‚Pfleglingen‘ in andere Anstalten, die von dort auf Todestransporte gingen. Und natürlich waren vorausgegangen massenhafte Zwangssterilisationen an Betheler Patienten.
Fehlendes Unrechtsbewusstsein führte nach 1945 dazu, dass einige hochrangige TäterInnen in Bethel Schutz vor der juristischen Ahndung der Verbrechen suchten und fanden. Das alles ist unbestreitbar. Doch gibt es noch viele Fragezeichen.
Die Vorgeschichte
Die AutorInnen der Aufsatzsammlung geben sich nicht zufrieden mit den bisherigen Erklärungen der Institution für den Anstieg der Säuglings- und Kindersterblichkeit im Kinderkrankenhaus Sonnenschein von 7% im Jahr 1933 auf über 20% in den Jahren 1940, 1944 und 1946.
Mögliche Ursachen werden auf der Basis neu entdeckter und ausgewerteter Quellen erfasst und Erklärungen zur Beantwortung der Frage formuliert: Gab es im Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ Tötungen im Rahmen des Euthanasie-Programms?
Vorausgegangen war die Veröffentlichung der genannten, von Bethel selbst erstellten Zahlen im Buch von Barbara Degen „Bethel in der NS-Zeit. Die verschwiegene Geschichte“ (Degen 2014).
In Reaktion darauf hatte der von Bethel beauftragte Historiker Wilke 2016 die Zahlen bestätigt und festgestellt, dass notwendige vergleichende und systematische Forschung zu den offenen Fragen ausstehe. Leider fehle es aber an Quellen, auch solchen zur Vergleichsforschung, da es sich um eine Leerstelle innerhalb der Medizingeschichte handele. Somit seien die aufgeworfenen Fragen als Spekulation zurückzuweisen (Karsten Wilke zum Krankenhaus Sonnenschein, Webseite Bethel).
Kinder, insbesondere sehr junge Kinder, scheinen in Deutschland nicht interessant für die Forschung zu sein.
Daraufhin gab es Untersuchungen einer Arbeitsgruppe um Claus Melter von der Hochschule Bielefeld, als deren Resultat eine Tagung im Jahr 2019 mit Barbara Degen und Karsten Wilke, mehrere Sammelbände und eine Wanderausstellung zu diesen Fragen entstanden sind.
Angesichts der Schwierigkeiten die das Fehlen von Quellen zum Kinderkrankenhaus Sonnenschein bedeutet, lassen sich die AutorInnen nicht abspeisen, sondern greifen erneut zu einem Forschungsansatz, der in einer Art Indizienkette auf der Basis neu entdeckter Quellen Rechercheergebnisse miteinander verknüpft. Wie ich vermuten kann, ist dies ein ungewöhnliches Vorgehen in einer Forschungslandschaft, in der nach meinen Beobachtungen – als forschende Angehörige mit einem künstlerischen Zugang – fraktionierte Ergebnisse als ‚Outcome‘ die Regel sind und Erkenntnisse gewöhnlich nicht miteinander verbunden werden.
Die Arbeitsgruppe der Hochschule Bielefeld stellt hingegen in einer Chronologie der Forschungsgeschichte fest: Die Beweis und Argumentationskette, die für die systematische Tötung von Säuglingen im Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ spräche, sei nach Einschätzung vieler ExpertInnen überzeugend (vgl. Audio-Dokumentation ExpertInnentagung im Sommer 2019 an der FH Bielefeld).
Das jetzt erschienene Buch stellt also nach dieser Vorgeschichte einen nächsten Schritt in einer fortlaufenden Auseinandersetzung um Schuld und Verstrickung der Institution Bethel in Bezug auf das Kinderkrankenhaus und den Nationalsozialismus dar.
Geschichtsaufarbeitung ist umkämpft
Marion Keßlers Beitrag weist nach, dass nicht äußere Umstände ursächlich für die Reduktion der Nahrungsrationen und für fehlende Frauenmilchsammelstellen in „Sonnenschein“ gewesen sein können, die zu der erhöhten Sterblichkeit führten.
Barbara Degen beleuchtet neu entdeckte Quellen zur damaligen Zusammenarbeit von Bethel mit der Firma Humana bei der Entwicklung künstlicher Säuglingsnahrung und untersucht den Einfluss der Eugenik im Wirken des damaligen ärztlichen Leiters des Kinderkrankenhauses. Dabei wird deutlich: Bethel war nicht passiv den Kräften der Zeit durch aufgezwungene eugenisch/rassenhygienische Paradigmen ausgesetzt, sondern setzte selbst mit der Herausgabe eines Lehrbuches in Bezug auf die Ausrichtung der Medizin Maßstäbe. Degen stieß auch auf Berichte der Nachkriegszeit, nach denen in Bethel offenbar zur Entstehungsgeschichte von Epilepsie geforscht wurde und fragt: Woher stammten die zahlreichen Präparate, die für die ab 1945 dann beschriebenen Forschungen zur Epilepsie nötig waren? Und wo sind sie geblieben?
Mitglieder der Arbeitsgruppe Bethel im Nationalsozialismus konnten erneut ein aussagekräftiges Interview mit einer ehemaligen Pflegekraft des Kinderkrankenhauses führen. Claus Melter gibt einen Überblick über eines der grausamsten, wohl am wenigsten aufgearbeiteten und erschütternsten Kapitel der NS-Zeit, nämlich die systematische Ermordung von Säuglingen und Kindern und fragt, ob das jahrelange Schweigen hierzu mit der Schwierigkeit zu tun hat, sich das Unvorstellbare vorzustellen und sich dieser Realität emotional zu stellen?
Benannt wird, dass speziell die jährliche Säuglingssterblichkeit (erster – 365. Lebenstag) von 12% 1933 auf über 30% 1940 angestiegen war.
Wie kann es sein, dass im Bethel Archiv die Patientenakten des Kinderkrankenhauses nicht aufzufinden sind? Wie ist es möglich, dass der Zugang zu Quellen – wie geschehen – verwehrt werden kann und dass die Fragen nach Herkunft und Verbleib der Präparate für die Hirnforschungen bis dato von der Institution selbst nie gestellt wurden?
Als Stand der Forschung im Feld der NS-„Euthanasie“ allgemein, wo ein ähnlicher Quellenschwund herrscht, gilt derzeit die Annahme als begründet, dass im Rahmen des „Euthansie“-Programms gemordet wurde, wenn die Sterblichkeitsrate so stark erhöht war, wie es im Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ der Fall ist.
Insgesamt legen die AutorInnen eine Fülle an neuem Material vor und interpretieren es nachvollziehbar. So wird eine Diskurs ermöglicht und die Behauptung entkräftet, es sei nicht möglich, systematische und vergleichende Forschung zu diesen Fragen anzustellen.
Ich hätte es begrüßt, wenn die AutorInnen ihr methodisches Vorgehen genauer erläutert und damit für jemanden wie mich leichter zugänglich gemacht hätten.
Bei mir sind durch die Lektüre viele Fragen entstanden. So frage ich mich wie es denn möglich ist, dass eine Institution, wenn es um die Aufklärung des Verdachts auf Medizinverbrechen der NS-Zeit geht, immer noch nach eigenen Regeln handeln kann?
Nicht nur die AutorInnen dieses Bandes, auch Angehörige regionaler Geschichtswerkstätten, die im Zusammenhang NS-„Euthanasie“ ‚von unten‘ forschen, berichten von ausbleibender Kooperation der Institution Bethel bei der Aufarbeitung. Zum Beispiel, wenn es um Auskünfte zu einzelnen Ärzten geht.
ForscherInnen, die in der Nachfolge der Opfer stehen und entsprechend eine andere Perspektive einnehmen, werden als angeblich unwissenschaftlich ausgegrenzt und diskreditiert.
Nachkommen, die künstlerische Ansätze wählen und Biografien aufarbeiten, werden beschwiegen. Es sind Geschichten, die auch Bethel betreffen. Künstlerische Ansätze sind widerständige Praxen sich den Erfahrungen derer anzunähern, die nicht überlebt haben und keine Berichte hinterlassen konnten. Widerständige Praxen sind sie auch, weil sie auf Täter*innen hinweisen, die zweimal davongekommen sind:
1. Weil sie nie bestraft wurden und 2. weil sie nicht erinnert werden.
Wer, wie die AutorInnen des Sammelbandes, gehofft hatte, die Institution möge doch besser mit den kritischen Forscher*innen zusammenarbeiten und dabei – naheliegend – an christliche Motive appelliert, wird enttäuscht. Die verstrickte Institution möchte den Kanon weiterhin bestimmen und die Deutungsmacht behalten. Doch wer sich mit dem Apparat anlegt, wird ihn in zäher, machtkritischer Arbeit auch verändern, was auch heißt, sich abzuarbeiten. Denn die Spuren der Gewalt und des „Silencing“ zeigen sich in den Falten der verborgenen Archive und in den Lücken der Erzählungen. Sie sind hörbar für diejenigen, die wissen wie es sich anfühlt, zum Schweigen gebracht zu werden. Diese Auseinandersetzungen sind selbst Teil der Geschichte der Kämpfe und werden die Institution verändern.
‚Wer spricht?‘ – Aufarbeitung ist mit Interessen verbunden
Das Buch hat mir auch vor Augen geführt: Die „Nachfahren“ in Institutionen, die sich in der Position von Täter*innen befinden, müssen genötigt werden, ihre Beteiligtenperspektive anzuerkennen. Genau dies konnten sie lange Zeit vermeiden, da die wenigen Überlebenden aufgrund der weiterhin bestehenden Ausgrenzung kaum eine Stimme hatten. Der in Oxford arbeitende und lehrende Medizinhistoriker Paul Weindling weist darauf hin, die Rechte der Opfer seien in Deutschland in der Forschung vernachlässigt und viel zu spät berücksichtigt worden.
Bethel hilft!
Vor einigen Jahren blickte ich staunend und überrascht in Berlin Mitte zu einer der überdimensionierten Plakatwände der Stadt auf. „Bethel hilft!“, prangte dort als Schriftzug neben den riesigen Porträts einiger freundlich blickender Menschen mit sichtbarem Assistenzbedarf. In den folgenden Wochen entdeckte ich immer mehr dieser Werbeplakate im Stadtraum. Lange Zeit habe ich gar nicht verstanden, was es damit auf sich hatte und mich gefragt, warum diese Aussage derart plakativ in Szene gesetzt wurde. Bei mir löste es die Frage aus: Hat vielleicht Irgendjemand das Gegenteil behauptet?
Nun stelle ich fest: In Bezug auf die NS-Vergangenheit offenbar schon. Vielleicht war diese überdimensionierte öffentliche Bekundung quasi unbewusst in die Werbekampagne eingegangen? Zweifellos hat die Einrichtung unter dem Einfluss „postfaschistischer Aktivisten“ (Herzog, 2024) und der „Krüppelbewegung“ vieles verändert. Doch Bethel und die NS-Zeit, das bleibt ein schwieriges Kapitel.
Was ist historische Verantwortung?
Auch in Bethel sind Täter*innen nie belangt worden und die Institution musste sich einer machtkritischen Auseinandersetzung bisher kaum stellen. Ist unter diesen Umständen Gerechtigkeit überhaupt noch möglich? Eigentlich geht es immer noch um Anerkennung und darum, unterschiedliche Ermittlungsstände zu erfassen. Warum also sollten diejenigen, die aus der Perspektive der Opfer aufarbeiten, Beweis führen müssen? Erst, wenn die Archive geöffnet werden und unabhängige Forschung gegeben ist, wird der Verdacht von der Hand zu weisen sein: Möglicherweise hat die Institution den Scheinwerfer der Forschung selektiv auf bestimmte Bereiche gerichtet, was andere Teile des Raumes verdunkelt?
Als transgenerational Betroffene sehe ich es weiterhin als meine Aufgabe an, die Perspektive der Opfer einzunehmen, sichtbar zu machen und dafür zu sorgen, dass auch die Position der Täternachfolge klar erkennbar wird. Nur so ist gewährleistet, dass Aufarbeitung nicht auf ein „Erinnerungstheater“ im Prozess einer „Wiedergutwerdung ohne Wiedergutmachung“ (Czollek 2023) hinausläuft. Wenn die Aufarbeitung von Institutionengeschichte auf ein Nivellieren solch entscheidender Differenzen und damit auf eine Instrumentalisierung zuläuft, bleibt die historische Urteilskraft auf der Strecke. (Jenny Tillmann)
Barbara Stellbrink-Kesy im Januar 2025