Stockholm-Syndrom: Das psychologische Phänomen der Täter-Opfer-Bindung. Das Stockholm-Syndrom ist ein komplexes und oft missverstandenes psychologisches Phänomen, bei dem Geiseln oder Opfer von Entführungen oder Missbrauch positive Gefühle, Sympathie und sogar eine emotionale Bindung zu ihren Peinigern entwickeln. Benannt wurde es nach einem Banküberfall mit Geiselnahme in Stockholm, Schweden, im Jahr 1973, bei dem die Geiseln nach ihrer Freilassung überraschenderweise Angst vor ihren Befreiern zeigten und sich weigerten, gegen die Bankräuber auszusagen. Dieses paradoxe Verhalten hat seitdem Psychologen, Kriminologen und die Öffentlichkeit fasziniert und wirft grundlegende Fragen über menschliche Überlebensmechanismen und emotionale Reaktionen unter extremem Stress auf.
Es ist wichtig zu betonen, dass das Stockholm-Syndrom keine offizielle psychiatrische Diagnose im Sinne des DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) ist, sondern eher ein psychologisches Reaktionsmuster beschreibt, das unter bestimmten, sehr spezifischen Umständen auftreten kann. Es handelt sich nicht um eine bewusste Entscheidung des Opfers, sondern um einen unbewussten Bewältigungsmechanismus, der in Situationen extremer Gefahr und Hilflosigkeit entsteht.
Die Entwicklung des Stockholm-Syndroms wird oft als Versuch des Opfers gesehen, die eigene Überlebenschance zu erhöhen. Indem das Opfer versucht, die Perspektive des Täters zu verstehen, dessen vermeintlich „gute“ Seiten wahrzunehmen oder dessen Handlungen zu rationalisieren, kann es die bedrohliche Situation erträglicher machen und möglicherweise Konflikte vermeiden, die das eigene Leben gefährden könnten. Es ist eine verzweifelte Suche nach Sicherheit und Menschlichkeit in einer unmenschlichen Situation.
Entstehungsbedingungen und Merkmale
Psychologen und Kriminologen haben mehrere Faktoren identifiziert, die das Auftreten des Stockholm-Syndroms begünstigen können. Diese Bedingungen müssen nicht alle gleichzeitig erfüllt sein, aber ihr Vorhandensein erhöht die Wahrscheinlichkeit:
- Erhebliche Bedrohung des Überlebens: Das Opfer muss eine reale Todesangst oder Angst vor schwerer körperlicher Verletzung durch den Täter empfinden.
- Wahrgenommene kleine Nettigkeiten: Der Täter zeigt dem Opfer gelegentlich kleine Freundlichkeiten oder Nachsichtigkeiten (z.B. Essen geben, nicht verletzen, kurze Gespräche). In der extremen Situation werden diese minimalen Gesten vom Opfer überinterpretiert und als Zeichen von Menschlichkeit oder Güte wahrgenommen.
- Isolation von äußeren Perspektiven: Das Opfer ist von Freunden, Familie und anderen Informationsquellen abgeschnitten. Die einzige Perspektive, die verfügbar ist, ist die des Täters.
- Wahrgenommene Unfähigkeit zur Flucht: Das Opfer muss das Gefühl haben, der Situation nicht entkommen zu können und völlig vom Täter abhängig zu sein.
Die Merkmale des Syndroms können vielfältig sein. Typischerweise entwickeln die Opfer positive Gefühle (Sympathie, Zuneigung, Loyalität) gegenüber ihren Peinigern. Gleichzeitig können sie negative Gefühle (Misstrauen, Angst, Wut) gegenüber den Behörden, der Polizei oder potenziellen Rettern entwickeln, da sie diese als Bedrohung für sich selbst oder sogar für den Täter wahrnehmen, zu dem sie eine Bindung aufgebaut haben. Nach der Befreiung können Opfer Schwierigkeiten haben, sich wieder in ihr normales Leben zu integrieren, und manchmal sogar den Kontakt zum Täter aufrechterhalten wollen oder sich weigern, gegen ihn auszusagen.
Der namensgebende Fall: Norrmalmstorg, Stockholm 1973
Der Begriff „Stockholm-Syndrom“ geht auf einen sechstägigen Banküberfall auf die Kreditbanken am Norrmalmstorg in Stockholm im August 1973 zurück. Zwei bewaffnete Kriminelle nahmen vier Bankangestellte (drei Frauen, einen Mann) als Geiseln. Während der langen Geiselnahme im Banktresor entwickelten die Geiseln eine unerwartete emotionale Bindung zu ihren Entführern. Sie hatten mehr Angst vor der Polizei als vor den Tätern und verteidigten diese nach ihrer Befreiung sogar öffentlich. Eine der Geiseln, Kristin Enmark, entwickelte eine besonders enge Beziehung zu einem der Bankräuber, Jan-Erik Olsson, und bat den damaligen Premierminister Olof Palme in einem Telefonat darum, den Forderungen der Geiselnehmer nachzugeben. Nach dem Ende der Geiselnahme sammelten die ehemaligen Geiseln sogar Geld für die Verteidigung der Täter.
Dieser Fall erregte weltweites Aufsehen und führte dazu, dass der Kriminologe und Psychiater Nils Bejerot den Begriff „Stockholm-Syndrom“ prägte, um dieses paradoxe Verhalten zu beschreiben. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass nicht alle Geiseln in dieser Situation das Syndrom in gleichem Maße entwickelten und dass die individuellen Reaktionen sehr unterschiedlich waren.
Psychologische Erklärungsansätze
Es gibt verschiedene Theorien, die versuchen, die psychologischen Mechanismen hinter dem Stockholm-Syndrom zu erklären:
- Überlebensmechanismus: Wie bereits erwähnt, sehen viele Experten das Syndrom als einen unbewussten Versuch, das eigene Überleben zu sichern. Durch Identifikation mit dem Aggressor und Anpassung an dessen Wünsche versucht das Opfer, die Gefahr zu minimieren.
- Traumatische Bindung: Ähnlich wie bei Bindungen, die in missbräuchlichen Beziehungen entstehen können, kann die intensive emotionale Erfahrung der Geiselnahme zu einer starken, wenn auch dysfunktionalen, Bindung führen. Die geteilte extreme Erfahrung, die Abhängigkeit und die gelegentlichen Momente der „Güte“ schaffen eine verzerrte Form der Intimität.
- Kognitive Dissonanz: Opfer könnten versuchen, die unerträgliche kognitive Dissonanz zwischen der Todesangst und der Abhängigkeit vom Täter zu reduzieren, indem sie ihre Wahrnehmung des Täters positiv verändern. Wenn der Täter als „gut“ oder zumindest „verständlich“ angesehen wird, ist die Situation psychologisch leichter zu ertragen.
- Regression: In Situationen extremer Hilflosigkeit können Menschen in kindlichere Verhaltensmuster zurückfallen (Regression). Sie werden passiv, abhängig und suchen Schutz bei der dominanten Figur – in diesem Fall dem Täter.
Diese Erklärungen schließen sich nicht gegenseitig aus und können je nach Individuum und Situation in unterschiedlichem Maße zutreffen. Es handelt sich um eine komplexe Reaktion auf ein extremes Trauma.
Stockholm-Syndrom in anderen Kontexten
Obwohl der Begriff ursprünglich aus Geiselnahmesituationen stammt, wird er manchmal auch metaphorisch oder zur Beschreibung ähnlicher Bindungsmuster in anderen Kontexten verwendet, wie z.B.:
- Häusliche Gewalt: Opfer häuslicher Gewalt können trotz wiederholten Missbrauchs an ihren Partnern festhalten, sie verteidigen und Schwierigkeiten haben, die Beziehung zu verlassen. Die Dynamik von Macht, Kontrolle, Isolation und gelegentlicher Reue oder Zuneigung seitens des Täters kann Ähnlichkeiten aufweisen.
- Kindesmissbrauch: Kinder, die von Bezugspersonen missbraucht werden, können ebenfalls ambivalente oder sogar positive Gefühle für den Täter entwickeln, da sie von ihm abhängig sind und oft keine andere Bezugsperson haben.
- Sektenmitgliedschaft: Mitglieder destruktiver Kulte können eine starke emotionale Bindung an den Kultführer entwickeln, trotz Ausbeutung und Manipulation.
- Kriegsgefangenschaft oder politische Gefangenschaft: Auch hier können ähnliche Dynamiken auftreten.
Es ist jedoch Vorsicht geboten bei der inflationären Verwendung des Begriffs. Nicht jede Bindung an eine Person, die einem schadet, ist automatisch ein Stockholm-Syndrom. Die spezifischen Bedingungen der ursprünglichen Definition (Lebensgefahr, Isolation, etc.) sind oft nicht in gleichem Maße gegeben.
Kritik und Kontroversen
Der Begriff „Stockholm-Syndrom“ ist nicht unumstritten. Einige Kritiker argumentieren, dass er die Reaktion des Opfers pathologisiert und die Verantwortung vom Täter ablenkt. Sie betonen, dass das Verhalten der Opfer eine rationale, wenn auch unbewusste, Überlebensstrategie darstellt und nicht als „Syndrom“ oder Krankheit betrachtet werden sollte. Andere weisen darauf hin, dass das Phänomen relativ selten ist und oft überdiagnostiziert oder falsch angewendet wird. Die wissenschaftliche Forschung dazu ist begrenzt, da die entsprechenden Situationen naturgemäß schwer zu untersuchen sind.
Fazit: Ein komplexes Überlebensphänomen
Das Stockholm-Syndrom bleibt ein faszinierendes und beunruhigendes psychologisches Phänomen. Es beleuchtet die erstaunliche Anpassungsfähigkeit des menschlichen Geistes unter extremem Druck und die komplexen Wege, auf denen Bindungen entstehen können, selbst unter den widrigsten Umständen. Es ist keine Krankheit, sondern eine unbewusste Bewältigungsstrategie, ein verzweifelter Versuch, in einer lebensbedrohlichen Situation zu überleben, indem man eine paradoxe emotionale Verbindung zum Verursacher der Bedrohung aufbaut. Das Verständnis dieses Mechanismus ist wichtig, nicht nur für die Behandlung von Traumata nach solchen Ereignissen, sondern auch, um die menschliche Psyche in Extremsituationen besser zu begreifen.