Eine künstlerische Recherche von Barbara Stellbrink-Kesy
Ausstellung im Amt Nordsee Treene, Mildstedt vom 3. Juli bis 28. August 2014
1926 kam ein Bild nach Nigeria, vermutlich ein Plakat aus Hagenbecks Völkerschau. Es verbreitete sich dort schnell und wurde in einen Kult integriert, der tief in der dortigen Mythologie verwurzelt war: ‚Mama Water’ ist die Göttin des Wassers und damit für die Übergänge zwischen Leben und Tod zuständig. Sie kann entscheidend in das Schicksal von Menschen eingreifen. Bedrohlich, aber zugleich kreativ und heilsam, ist sie für die Wahrung des Gleichgewichtes zwischen den Kräften der Natur und den Menschen ebenso verantwortlich wie für das körperlich/seelische Gleichgewicht der Menschen.
‚Mama Water’ Priesterinnen in Nigeria helfen denjenigen, die sich nicht mit dem alltäglichen Leben, den Normen und Erwartungen der Gesellschaft abfinden können. Mit den Mitteln von Tanz, Musik und Kunst rekonstruieren sie die verletzten Identitäten der Menschen, die mit den traditionellen Wertvorstellungen in Konflikt geraten sind (S. Jell-Bahlsen).
Die Vorstellungsbilder von ‚Mama- oder Mummy Water’ und ihre zahlreichen Spielarten auf der Welt sind eng verwandt mit den Bildern der Meerjungfrauen, Sirenen und Undinen und der Schlangenkönigin Sahmeran. Alle diese Erscheinungsformen des ‚Anderen’, das in unserer Kultur häufig ausgegrenzt wurde, bewegen sich zwischen der Welt der Menschen und der uns weitgehend unbekannten Tiefe.
„Ich wusste nicht, wie man Platz nimmt, in einem anderen Leben“, lässt Ingeborg Bachmann ihre Undine sagen.
„Ich weiß gar nicht, ob ich schon richtig gelebt habe; bewusst jedenfalls nicht, darauf warte ich noch. Krank stellenweise und gehemmt und frei, aber verpönt“, schreibt Irmgard Heiss 1940.
Irmgard Heiss wurde 1925 in einer Westfälischen Heilanstalt- und Pflegeanstalt „Parasitismus Sozialis“ und „minderwertige Persönlichkeit“ bescheinigt. Der Hintergrund: Sie hatte die Normen ihrer Zeit verletzt und sie wollte als allein erziehende Mutter selbstbestimmt leben. Ausgegrenzt aus dem öffentlichen
Leben, getrennt von ihren Kindern, entmündigt, wurde sie hinter Anstaltsmauern gebracht bis zu ihrem Lebensende. Mit der Diagnose ‚Dementia Präcox’ ab 1929 galt sie als unheilbar und wurde in der Zeit des Nationalsozialismus Opfer der „Euthanasie.“ Sie wurde getötet durch systematische Unterernährung und Vernachlässigung in der Anstalt Weilmünster, Hessen, 1944.
Die Erscheinungsformen von ‚Mama Water’ kontrastieren in dieser Ausstellung Zeugnisse der Anstaltspatientin Irmgard Heiss aus den Jahren 1940 – 44. Briefe und Bilder setzen sich mit dem Abschnitt der Psychiatriegeschichte in Deutschland auseinander, der in die Patientenmorde einmündete. Nach dem Krieg waren die Morde und Zwangssterilisationen weiterhin kein öffentliches Thema. Auch Irmgard Heiss wurde in der Familie noch einmal totgeschwiegen. Diesem Schweigen, das als ein Teil des Verbrechens selbst betrachtet werden muss, setzt die Künstlerin öffentliche Bilder entgegen. Die Ergebnisse legen gesellschaftliche Sichtweisen bloß, öffnen den Blick für das, was in den Krisenzeiten der bürgerlichen Gesellschaft häufig als ‚das Andere der Vernunft’ definiert, ausgegrenzt und stellvertretend bekämpft wurde.
Barbara Stellbrink stellt mit dieser Ausstellung die Ergebnisse der künstlerischen Annäherung an ihre Großtante Irmgard Heiss in ihrer Wahlheimat- und zugleich dort vor, wo Himmel, Erde und Wasser sich am nächsten sind. ‚Mama Water’ kann hier zuhause sein.
Barbara Stellbrink-Kesy, Berlin, ist Kunsttherapeutin und Künstlerin. Sie ist Menschen, Flusslandschaften und Wassergöttinnen der Region sehr verbunden.